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Abschlusskonzert des Heinrich Schütz Musikfests mit dem Ensemble Vox Luminis am 16. Oktober 2022 in Torgau | Foto: Mathias Marx
Abschlusskonzert des Heinrich Schütz Musikfests mit dem Ensemble Vox Luminis am 16. Oktober 2022 in Torgau | Foto: Mathias Marx

Zukunft braucht Herkunft

Mitteldeutsche Barockmusik – wer würde da nicht zuallererst an Schütz und Bach, Händel und Telemann denken? An die Großen jener 150 Jahre Musikgeschichte zwischen dem Beginn des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts, die im Konzert der europäischen Musik ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hatten?

Mitteldeutsche Barockmusik ist jedoch weit mehr als diese fabelhaften Vier. Ein dichtes Netz von fürstlichen Residenzen, Kirchen und Schulen, ein lebendiger Wettbewerb zwischen adligen und bürgerlichen Institutionen, zwischen Stadt und Land brachten eine reiche kirchenmusikalische Tradition hervor, ebenso wie Glanzstücke höfischer Unterhaltungsmusik, repräsentative und komische Opern, geselliges Musizieren in städtischer oder schulischer Umgebung, gelehrte Dispute über Musik an den Universitäten, kritischen Musikjournalismus.

Mit dem Interesse an historisch informierter Aufführungspraxis wuchs vor dreißig Jahren auch die Neugier auf musikalische Werke, die man noch nie gehört hatte. Es ist auch das Verdienst der MBM, diese Musik im Schatten der Großen ans Licht geholt und der Musikwelt gezeigt zu haben, welche Schätze dort im Verborgenen zu finden waren und sind. Unser Musikleben ist dadurch vielfältiger geworden.

Doch in der musikalischen DNA von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen finden sich viel mehr als mitteldeutsche Gene. Denn gerade weil diese Region kulturell so attraktiv war, zog sie Musiker von überall in Europa an – Italiener, Franzosen, Engländer, Dänen, Polen, Tschechen. Sie alle brachten ihre eigenen musikalischen Erfahrungen mit und kombinierten sie mit der Musik, die sie vorfanden. Mitteldeutsche Musiker reisten nach Italien oder Frankreich, um dort bei bedeutenden Musikern zu studieren. Sie trugen ihr neues Wissen zurück und bereicherten die Musik ihrer Heimat um die neugewonnenen Kenntnisse. Und wem das Reisen zu teuer oder zu beschwerlich war, konnte die Musik der Anderen in den Partituren studieren, die der europäische Musikalienhandel zur Verfügung stellte.

Wo Kaiser und Könige, aber auch Duodezfürsten im Namen von Landnahme oder Religion Kriege führten, sich gegeneinander durch gut bewachte Grenzen abschotteten, Menschen vertrieben oder töteten, fand die Musik Wege, diese Grenzen, die territorialen ebenso wie die konfessionellen, zu überwinden und sich immer wieder aufs Neue zu vermischen. Johann Sebastian Bachs Brandenburgische Konzerte fußen auf Antonio Vivaldis Concerti grossi, Georg Philipp Telemanns Tafelmusik vereint italienische und französische Gattungen, kleine und große Besetzungen unter dem französischen Titel Musique de table. Johann Hermann Schein veröffentlichte seine Tanzsuiten unter dem italienischen Namen Banchetto musicale, Heinrich Schütz zitierte Claudio Monteverdi in seinen Kompositionen, Vincenzo Albrici, ausgebildet bei den Jesuiten in Rom, wirkte lange am Dresdner Hof und schließlich sogar als Organist an der Thomaskirche in Leipzig.

All dies ist mitteldeutsche Barockmusik. Sie ist das schlichte Kirchenlied in der Dorfkirche. Sie ist die Cembalosonate für die höhere Tochter. Sie ist die imposante Matthäus-Passion in der Thomaskirche. Sie ist die prächtige italienische Opera seria am Dresdner Hoftheater. Sie ist die Geburtsstätte des deutschen Singspiels nach dem Modell der englischen Ballad Opera in Leipzig. Sie ist das Abbild einer europäischen Musikkultur, die weiß, dass das Lernen voneinander zu großartigen Ergebnissen führt. Sie ist geeignet, uns an das zu erinnern, was unsere Zukunft reicher macht – Weltoffenheit, Vielsprachigkeit, Neugier auf das Andere, Respekt und Toleranz.

Bach blieb im Lande, Händel zog es hinaus in die Welt, Schütz nach Italien und wieder zurück in die Heimat, Telemann entschied sich irgendwann für Hamburg statt für Leipzig. Musiker aus Mitteldeutschland bereicherten und beeinflussten das europäische Musikleben, ebenso wie Musik und Musiker aus Europa die mitteldeutsche Musik vor künstlerischer Inzucht bewahrten. All dies kann ein Modell für die Zukunft einer Region sein, ein Impuls, die eigene Identität neu zu denken. Oder, wie es Odo Marquard 2003 formulierte: Zukunft braucht Herkunft. Und die ist – das lehrt uns die mitteldeutsche Barockmusik – reich, bunt und vielfältig.

Prof. Dr. Silke Leopold

© Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.

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